Menschen in unseren Köpfen. Eine Kurzgeschichte.
Jedes Semester nehme ich mir wieder vor, diesmal wirklich zu 100 Prozent und ohne Kompromisse von Anfang an mitzulernen. Die Menschen in meinem Kopf nehmen diesen Auftrag entgegen, legen einen neuen Ordner an und versehen ihn mit einer hohen Prioritätsstufe. So weit so gut.
In der Vorlesung selbst wird das Arbeitsprotokoll strikt eingehalten. Zuhören, mitschreiben, Textmarker benutzen. Alle sind wach und aufmerksam, Chaos existiert nicht. Auf dem Heimweg kommt es zum Schichtwechsel in meinem Kopf, die ersten Menschen verabschieden sich in den wohlverdienten Feierabend. Allerdings gibt es ein kleines Speicherproblem. Zuhören, mitschreiben und Textmarker benutzen konnte noch gerettet werden, allerdings ist der Punkt „Gelerntes Verarbeiten“ unauffindbar. Ein Großteil der aufgenommenen Informationen ist verloren gegangen und kann auch nach mehreren verzweifelten Versuchen nicht wiederhergestellt werden.
Prinzipiell könnte man jetzt die betroffenen Daten mit etwas Zeitaufwand durch erneutes Sichten der Daten wieder rekonstruieren, allerdings besteht dabei schon ein weiteres Problem. Ein Mitarbeiter hat seinen Kaffee über das Steuerungspult gekippt. Der verursachte Kurzschluss hat leider die Prioritätenliste beschädigt und unaufrufbar gemacht. Dementsprechend wird der notwendige Arbeitsschritt nicht eingeleitet. Stattdessen fokussieren sich die Menschen in meinem Kopf jetzt auf die Grundbedürfnisse. Essen, Schlafen und Instagram… Instagram?
Ja tatsächlich, in meiner persönlichen Maslowschen Bedürfnispyramide hat es ein paar Änderungen gegeben. Der neue Praktikant ist scheinbar mit der Copy-Paste-Funktion seines Laptops überfordert und hat sich unbemerkt einen groben Fehler geleistet. Nur durch seine Unfähigkeit verbringe ich die nächsten Stunden auf der Couch, scrolle durch hunderte Reels und like ein Foto nach dem anderen.
Endlich steht der nächste Schichtwechsel an, einige fähige Menschen treffen in meinem Kopf ein. Sofort entdecken sie die ersten Fehler und leiten einen Not-Stopp ein. Panik bricht aus, während alles versucht wird, um Schadensbegrenzung zu betreiben. Für mich bedeutet das ein schlechtes Gewissen, innere Unruhe und ein Drang, die Nacht zum Lernen zu nutzen. Allerdings wurde aufgrund der Uhrzeit bereits ein Teil der Maschinen in meinem Kopf heruntergefahren. Sie können von den Mitarbeitern erst nach einer vorgeschriebenen Ruhezeit wieder gestartet werden.
Mangels weiterer Möglichkeiten wird mein Körper vorerst ins Bett geschickt. Währenddessen wird ein neues Prioritätenprotokoll geschrieben und doppelt gesichert. Denn schließlich muss am nächsten Morgen einiges nachgeholt werden. Diesmal hoffentlich mit ausgeschlafeneren Arbeitern und weniger Fehlermeldungen.
Allerdings erlaube ich mir an dieser Stelle einen kleinen Spoiler: Viel erfolgreicher wird auch der nächste Tag nicht laufen. Es gibt noch einen neuen Praktikanten, der keine Kenntnis über die Funktion eines Snooze-Buttons hat…
Wir alle haben manchmal diese Menschen in unseren Köpfen. Schließlich können wir für all diese Vorfälle doch nicht selbst verantwortlich sein, oder?