MUL Radelt: Die Wochenendheldentaten von David Misch
Ljubljana, 05:00 Uhr morgens. Eine Temposchwelle, ein krachender Aufprall, eine gebrochene Schulter. Der Gestürzte – praktischerweise – der Arzt in der Gruppe. Die Eskapade Graz – Triest – Graz nimmt für ihn nach 450 Kilometern ein schlagartiges Ende – nächste Station Unfallkrankenhaus. Die Konversation am Straßenrand surreal: drei Mitfahrende beraten sich über den vermuteten Schaden an Mensch und Material, während der Leidtragende flucht. Wer hat hier in der Pampa eine Temposchwelle hingepflastert!? Ein emotionaler Schmelztiegel: die Scham über den Anfängerfehler auf dem Rad, der Verdienstausfall durch die Schulter-OP, aber am wichtigsten: könnte man eventuell doch noch aus eigener Kraft bis nach Graz kommen, jetzt, da am Körper ohnehin schon alles kaputt, der Lenker aber wieder geradegebogen ist? Hundert verbissene Kilometer später gibt der Schmerz die Antwort: ein definitives Nein. Brutal, unvernünftig, gefährlich? Das Restrisiko kann man, wenn ein Abenteuer ein Abenteuer bleiben soll, eben nie ganz ausschließen.
Warum zieht die körperliche und mentale Tortur im Sport immer mehr „Verrückte“ an? Warum boomen die extremen Ausdauersportveranstaltungen allerorts, lässt sich mit absoluten Nischensportarten wie Ultracycling oder Trailrunning mittlerweile sogar gutes Geld verdienen? Wen die Faszination gepackt hat, der kennt seine persönliche Antwort – meiner möchte ich hier auf den Grund gehen.
Zuallererst konnte ich noch nie gut stillsitzen. Vor dem PC, bei der Arbeit, wippen die Beine immer mit. Gute Voraussetzungen für Race Across America und Co.? Ein ausgeprägter Bewegungsdrang schadet definitiv nicht, wenn es darum geht, tausende Kilometer am Stück im Sattel zu sitzen und dabei auch noch so etwas wie Befriedigung, gar Spaß zu empfinden. Ehrgeiz? Spielt sicher eine Rolle, allerdings halten sich Ruhm und Ehre meist in Grenzen, wenn nach Tagen körperlichen Verfalls sogar der Toilettenbesuch nur durch Teamwork zu bewältigen ist. Langstreckenradfahren bedeutet Altern im Zeitraffer – zum Glück nur temporär.
Wer sagt uns, was wir können und dürfen? Wir selbst! Eigenverantwortung und Selbstbestimmtheit, das verbinde ich persönlich mit dem langen Unterwegssein, egal ob auf der Straße oder in den Bergen. Verpflegung, Sicherheit, Regeneration – wie weit kann ich gehen, wo stoße ich an eine scheinbare Grenze, und wo liegt die reale Grenze? Sport als Lebensschule; die Unterrichtsgegenstände: Akzeptanz, Willenskraft, Selbstkontrolle. Dabei ist es egal, ob es um die Akzeptanz gegenüber körperlichen Schmerzen beim Ultracycling oder einen abgelehnten Projektantrag geht, um die Willenskraft beim Überqueren der Appalachen nach 40.000 Höhenmetern in knapp über einer Woche oder den stressigen Abschluss eines Forschungsprojekts. In allen Lebensbereichen gilt Leiden ist Schmerz mal Widerstand – wer in einem Extremrennen wie dem Race Across America schwierige Situationen nicht als gegeben annehmen und mit ihnen arbeiten kann, steht auf verlorenem Posten. Ärger über einen Rückschlag löst nur noch mehr Frustration und schlechte Entscheidungen aus.
Ausbruch aus der Komfortzone? Abgedroschen, aber reizvoll. Denn nur wer seine Komfortzone überwindet, erreicht die Lernzone, also jenen Bereich, in dem uns die Alltagsroutine nicht die Arbeit abnimmt. Auf den Radsport übertragen beginnt das schon im Training, wenn es darum geht, bei der winterlichen Cross-Ausfahrt bei -10 °C durch das Eis eines vermeintlich kniehohen Tümpels zu brechen, am eigenen Leib zu erfahren, dass es sich doch um ein ausgewachsenes Gewässer handelt, das Gelächter der Trainingskollegen zu ertragen und schließlich auf der dreistündigen Heimfahrt in der Dämmerung durch warme Gedanken dem Kältetod zu trotzen. Die Lernzone ist, wo wir unsere Fähigkeiten erweitern, wo Entwicklung stattfindet. Darüber hinauszugehen – in die Gefahrenzone – ist weniger empfehlenswert, daher gilt frei nach dem berühmten Alpinisten Paul Preuß: „Das Können ist des Dürfens Maß“.
Der Extremradsport ist also das physiologische und psychologische Do-it Lab schlechthin. Bei 49 °C einen ganzen Tag durch die Wüste zu strampeln, dabei 26 Liter Flüssigkeit angereichert mit 14.000 kcal zu sich zu nehmen, wie fühlt sich das an? Erstaunlich unspektakulär, wenn man gut vorbereitet ist, was bedeutet die Motivation aufzubringen, in drei Jahren Vorbereitungszeit 90.000 Radkilometer bei jedem Wetter abzuspulen. Vor den nächtlichen Halluzinationen von Teerschlangen auf der Straße, einem ausgewachsenen Gruselkabinett an schrägen Figuren, die einen vom dunklen, baumbewachsenen Straßenrand anfeuern, kann einen auch die beste Vorbereitung nicht beschützen. Sie kommen, spätestens nach drei oder vier Nächten mit je nur einer Stunde Schlaf, unweigerlich. Aber auch sie gilt es an- und – wenn der Geist wieder klar ist – mit Humor zu nehmen.
Zu verrückt, um etwas davon in den Alltag mitzunehmen? Zum Glück haben die erschöpfungsbedingten Wahnvorstellungen die Heimreise über den Atlantik nicht mitgemacht, aber die Grundeinstellung, Ziele beharrlich zu verfolgen und nicht jeder kurzfristigen Widrigkeit nachzugeben, halte ich in Ehren. Noch immer macht es mir Freude, Sport über den Punkt hinaus zu betreiben, an dem es die meisten gut sein lassen würden. Eine kleine Tour von Leoben auf den Präbichl mit Umweg über die slowenische Grenze, oder freitags vor dem langen Wochenende nonstop ans Meer, bedeutet für mich Naherholung, die kaum Geld kostet, allerdings den Gegenwert einer Woche Luxusurlaub und definitiv mehr amüsante Erinnerungen bietet. Der Sport hat mir ermöglicht, Bücher zu veröffentlichen, dabei legendäre Menschen wie den Mt. Everest Pionier Peter Habeler persönlich zu treffen, vielleicht aber auch, meine Ziele in der Forschung effektiv und mit langem Atem umzusetzen. Begonnen hat alles weder mit ausgeprägtem Talent noch irrwitzigem Übereifer, sondern mit einer Donauinselrunde von nicht einmal dreißig Kilometern. Wer den ersten Schritt gemacht hat, ist schon einen Schritt vorangekommen. Darauf lässt sich aufbauen…